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Diktatur der Modekritik

Der Marketingexperte Dr. Joseph Nunes zur Entwicklung von Mode

„Ich studiere Mode, ich praktiziere sie nicht,“ stellt Professor Joseph Nunes gleich zu Beginn seiner Lecture an der Wirtschaftsuniversität Wien grinsend klar. „Bitte schließen Sie von der Qualität meines Anzuges und meiner Krawatte nicht auf die Qualität meiner Studien!“

Im Zuge einer Seminarreihe lädt das Marketing Department der WU internationale ExpertInnen zu Vorträgen und Meinungsaustausch ein. Professor Joseph Nunes von der University of Southern California präsentierte sein Paper „How Fashion Critics Affect Aestethic Innovation: Debunking the Myth of Designer as Dictator“ (zu Deutsch: „Der Einfluss der Modekritik auf ästhetische Innovation. Die Diktatur des Designers ist ein Mythos.“)

„Die Mode braucht einen Tyrannen,“ meinte der französische Modeschöpfer Paul Poiret bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts. Er war sozusagen der erste wahre Mode-Diktator, der davon überzeugt war, dass die Menschen Sklaven der Mode wären, unfähig für sich selbst zu entscheiden was ihnen gefiel oder nicht. Heute ist es Karl Lagerfeld, der diese Diktatorenrolle verkörpert, er, der immer wieder beteuert es sei ihm egal, was Kritiker über ihn schreiben oder ob irgend jemandem seine Kreationen gefallen. Doch stimmt das wirklich? Sind Designer wirklich immun gegen Kritik und die Meinung anderer? Prinzipiell sind Kreative ja davon überzeugt, einen absolut individuellen Weg mit ihrer Kunst zu gehen

Nun, Joseph Nunes ist diesbezüglich einigen Fragen nachgegangen: Was ist Innovation in der Mode? Wie beeinflussen Modekritiker und andere Meinungsmacher (Blogger) Designer? Und wie beeinflussen Kritiken an Designer-Kollegen die Arbeit von Designern?

Innovation und Inspiraton

Was Trends und Modeerscheinungen betrifft, gibt es zwei Gedankenschulen: Die Top-Down und die Bottom-Up Theorie. Erstere besagt, dass die „Masse“ die „Elite“ kopiert. Zweitere ist jene Meinung, dass Mode auf der Straße beginnt und von Designern kopiert und populär gemacht wird. Vivienne Westwood und die britische Punk Szene sind ein gutes Beispiel dafür. Im wirklichen Leben ist es sicherlich eine Kombination aus beidem. Und egal in welche Richtung die inspiratorische Initialzündung ging: Fakt ist, dass Designer indirekt bestimmen, welche Kleidung wir kaufen. Denn indem sie Outfits auf den Catwalks dieser Welt zeigen, geben sie Statements ab. In tragbarerer Form kommen diese in die Kollektionen und schließlich und endlich, kopiert und günstig nachgeschneidert, in die Geschäfte.

Designer haben brillante Ideen, ihren eigenen Stil, einen Look und ihre Rolle in der Modewelt. Ästhetische Innovation kennt keine Grenzen, und haben sie sich einmal einen Namen gemacht, sind sogar Muschelschuhe, Mankinis oder sogar Sandalen mit Socken toll, wie im Fall von Alexander McQueen. Doch wo hört die coole Avantgarde auf und wo beginnt das schlichtweg Untragbare? Hier kommen die Kritiker ins Spiel. Sie sagen, was OK ist und was nicht, sie gehen auch oft gegen den Mainstream-Geschmack. Auch sie
beeinflussen, was wir kaufen und sie nehmen sich kein Blatt vor den Mund. Die bekannte New York Times Modekritikerin Cathy Horyn beschrieb zum Beispiel die aktuelle Celine-Kollektion als „club sandwich of cleverly reworked ideas“ (Sandwich aus recycelten Ideen).

Nun, um zu den Anfangsfragen zurückzukehren:
Was machen solche Kritiken mit den Designern?
Für sein Paper haben Joseph Nunes und seine KollegInnen von 1999 – 2007 die Kollektionen von etwa 60 italienischen und französischen Top-Modehäusern von Prada bis Yves Saint-Laurent bei den Fashion Shows in Mailand und Paris beobachtet und ausgewertet sowie die Werbeanzeigen und Reviews (von namhaften Kritikern) in der Vogue Italia, der Elle Italia, der Vogue France und der Marie Claire France.

Das Stil-Genom

Dann errechneten sie auf unheimlich komplizierte Weise aus 2530 verschiedenen „Stilunterscheidungseinheiten“ (Schnitte, Muster, Farben, Ärmel, Hosenlängen, Rocklängen etc.) ein sogenanntes Stil-Genom.

Die Daten belegen Folgendes:

Prinzipiell entwickelt sich ein Designer von Kollektion zu Kollektion weiter. Die französischen Marken sind a priori innovativer als ihre italienischen Kollegen (die allerdings um einiges mehr Werbung schalten). Abgesehen von dieser Ausgangsposition wurde eindeutig belegt, dass Kritiken die kommenden Kollektionen beeinflussten: Bei negativen Kritiken gab es mehr Abweichungen von der Trendlinie als nach positiven.
Negative Kritiken an Kollegen bewirkten dasselbe. Allerdings ist dies in beiden Fällen von der Größe und vom Prestige des Modehauses abhängig: Aufgrund des höheren Status ihrer Star-Designer reagieren die großen Häuser viel weniger sensibel auf negative Kritiken als die kleinen. Und je höher das Prestige eines Designers, desto unwichtiger eine schlechte Kritik in den Augen der Kollegen. Also stehen die Star-Designer im Meinungs-Ranking dann doch höher als die einflussreichsten Kritiker.

Und wer ist nun der Tyrann?

Bei all diesen gegenseitigen Wechselbeziehungen ist keine eindeutige Diktatur auszumachen. Vielleicht ist es unsere Eitelkeit?


Professor Joseph Nunes

 Text: Nicola Gold führt das Wortfachgeschäft in Wien.
(Archiv 2012)

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